21 Οκτ Bei Rückenschmerzen von Älteren an Osteoporose denken
Sehr viele osteoporotische Frakturen werden nicht erkannt, geschweige denn behandelt, kritisiert Dr. Stephan Scharla anlässlich des heutigen Welt-Osteoporose-Tages. Im Interview schildert der Privatdozent, wo das Problem liegt, wie es gelöst werden kann und welche Rolle die Hausärzte dabei spielen.
Dr. med. habil. Stephan Scharla
© Stephan Scharla
Privatdozent Dr. med. habil. Stephan Scharla hat als Internist mit dem Schwerpunkt Endokrinologie eine Praxis in Bad Reichenhall. Er ist Mitglied verschiedener osteologischer Fachgesellschaften, im Beirat der Sektion Knochenstoffwechsel der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie und zweiter Vorsitzender des Kuratoriums Knochengesundheit e. V.
Ärzte Zeitung: Das Motto des heutigen Welt-Osteoporose-Tages (20. Oktober) lautet “Stop at one”, auf Deutsch “Einer ist genug”: Warum fokussiert man auf diesen späten Zeitpunkt, wenn sich bereits eine erste Fraktur ereignet hat?
Privatdozent Dr. Scharla: Die International Osteoporosis Foundation hat dieses Motto gewählt, weil auch heute noch sehr viele Patienten mit einer ersten osteoporotischen Fraktur weder einer Diagnostik noch einer Therapie zugeführt werden. Nach Daten der Techniker Krankenkasse aus der BEST-Studie werden in Deutschland nur zirka 45 Prozent dieser Patienten mit osteoporosespezifischen Medikamenten behandelt. Hier könnte durch eine bessere Versorgung selbst kurzfristig viel erreicht werden.
Ärzte Zeitung: Wie häufig sind denn Frakturen auf der Basis einer Osteoporose?
Scharla: In Deutschland ereignen sich pro Jahr etwa 130.000 hüftnahe Oberschenkelhalsfrakturen, davon sicher über 90 Prozent als Folge einer Osteoporose. Und es werden 70.000 bis 80.000 Wirbelkörperfrakturen erkannt, die Dunkelziffer liegt aber höher. Nach deutschen Daten aus der EPOS-Studie erleiden jedes Jahr ein bis zwei Prozent der über 60-Jährigen eine osteoporotische Wirbelfraktur.
Ärzte Zeitung: Mit welchen Folgen?
Scharla: Bei Patienten mit Oberschenkelhalsfrakturen besteht im ersten Jahr eine Übersterblichkeit von 15 bis 20 Prozent. Etwa 30 Prozent sind dauerhaft auf Pflege angewiesen. Nach vertebralen Frakturen haben die Patienten teilweise starke Schmerzen, die sie bei Alltagsverrichtungen behindern; aber auch die Sterblichkeit ist etwas erhöht.
Unbehandelt erleidet jeder fünfte Patient mit einer Wirbelkörperfraktur innerhalb eines Jahres eine weitere Fraktur. Es handelt sich also um eine Hochrisikosituation. Daher empfehlen die Leitlinien eine rasche Therapie auch bei einer noch relativ hohen Knochendichte mit T-Werten < -2.
Ärzte Zeitung: Wann muss der Arzt Verdacht schöpfen auf eine osteoporotische Fraktur?
Scharla: Wichtig ist, dass bei Rückenschmerzen, wenn sie bei älteren Menschen auftreten, auch an eine Osteoporose gedacht wird. Wenn Rückenschmerzen länger als sechs Wochen bestehen, müssen sie mit einer Röntgenaufnahme abgeklärt werden.
Aber auch bei erkannten Knochenbrüchen, zum Beispiel einem Speichenbruch nach einem Sturz aus dem Stand, muss man daran denken, dass es sich um ein Zeichen einer Osteoporose handeln kann. Deswegen ist bei Frauen über 60 und Männern über 70, im Einzelfall bei Vorliegen von weiteren Risikofaktoren auch bei jüngeren Patienten, nach einer peripheren Fraktur leitliniengerecht eine Osteodensitometrie zu veranlassen.
Ärzte Zeitung: Warum werden Wirbelkörperfrakturen so oft übersehen?
Scharla: Rückenschmerzen sind ein häufiges Phänomen, das eine Vielzahl von Ursachen haben kann und oft auch wieder verschwindet. Viele Patienten neigen dazu, erst einmal abzuwarten, und die Ärzte verordnen oft erst einmal eine symptomatische Schmerztherapie.
Das Problem ist die Balance zwischen Vermeidung von Überdiagnostik und dem Übersehen einer Grunderkrankung.
Ärzte Zeitung: Selbst bei erkannter osteoporotischer Fraktur erhält nicht einmal die Hälfte der Patienten eine spezifische Therapie …
Scharla: Auch hier liegen die Ursachen wahrscheinlich bei Patienten und Ärzten. 50 Prozent der Patienten brechen die Therapie mit einem einmal wöchentlich einzunehmenden Bisphosphonat innerhalb des ersten Jahres ab.
Und selbst bei den Ärzten scheint teilweise noch ein mangelhaftes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Therapie zu bestehen. Wahrscheinlich handelt es sich aber auch um eine Schnittstellenproblematik, weil beim Übergang von der Klinik in die ambulante Versorgung Informationen verloren gehen.
Ärzte Zeitung: Gibt es weitere systembedingte Hürden, die einer besseren Versorgung im Weg stehen?
Scharla: Das Bemühen um eine gute Diagnostik und Versorgung wird oft zu wenig honoriert. Hier versucht man jetzt, mit der integrierten Versorgung Abhilfe zu schaffen. Auch für Patienten besteht in solchen Verträgen eine höhere Motivation. Bei der medikamentösen Therapie stellt vor allem die Androhung von Regressen und Strafzahlungen eine Hürde dar.
Ärzte Zeitung: Hat es dann in den letzten Jahren auch Fortschritte in der Versorgung von Osteoporose-Patienten gegeben?
Scharla: Die Versorgung ist heute immerhin deutlich besser als noch vor zehn Jahren. Damals wurden nur etwa 20 Prozent aller Osteoporose-Patienten leitliniengemäß behandelt. Dass inzwischen mehrere Bisphosphonate generisch und dadurch billiger geworden sind, bedeutet sicher auch einen Fortschritt für eine breitere Versorgung. Außerdem ermöglichen innovative Medikamente, also mit dem anabol wirkenden Parathormon oder dem Resorptionshemmer Denosumab, auch schwere Verlaufsformen erfolgreich zu behandeln.
Ärzte Zeitung: Wo sehen Sie denn die wichtigsten Aufgaben der Hausärzte?
Scharla: Der Hausarzt hat bei Diagnostik und Therapie der Osteoporose eine ganz zentrale Rolle, weil er die Patienten kennt und langfristig und umfassend betreut – und nicht nur mit einem einzelnen Krankheitsbild sieht. Er hat die verantwortungsvolle Aufgabe, die Diagnostik und die medikamentöse Therapie, inklusive Schmerz- und Physiotherapie, zu koordinieren.
Dazu gehört, dass er bei seinen Patienten auf Risikofaktoren für eine Osteoporose achtet, etwa auf die Familienanamnese (Schenkelhalsbruch bei Eltern?), auf Ernährung und Genussmittel (Nikotin?), prädisponierende Erkrankungen und Medikamente (z. B. Glukokortikoide). Auch das Sturzrisiko sollte beurteilt werden, zum Beispiel im Rahmen eines geriatrischen Assessments.
Bei hohem Risiko sollte er eine Diagnostik empfehlen und eine Gesundheitsberatung durchführen, also Ernährungstipps geben und hinsichtlich Bewegung informieren und auch Kontakte zu Selbsthilfegruppen und Gesundheitssport vermitteln.
Bei der medikamentösen Therapie fällt ihm die Aufgabe zu, mögliche Interaktionen sowie mögliche Gegenanzeigen für Bisphosphonate, etwa eine Niereninsuffizienz, im Auge zu behalten.
Ärzte Zeitung: Was läuft schon gut bei der hausärztlichen Versorgung, und wo gibt es noch Defizite?
Scharla: Die Aufmerksamkeit für das Krankheitsbild und die Frakturprävention ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Allerdings fehlt im Praxisalltag oft die Zeit, um Risikofaktoren für eine Osteoporose mithilfe von Anamnesegesprächen und Funktionstests zu erfassen.
Vonseiten der Politik könnten die Hausärzte Unterstützung bei ihrer Aufgabe erhalten, indem man das Damoklesschwert der Regressdrohung endlich wegnehmen würde. Auch die Leitlinien zur Osteoporose-Therapie könnten für den Primärarzt, der ja viele Leitlinien beachten muss, noch praxisnäher gestaltet werden.
Das Gespräch führte Beate Schumacher